Die Arbeitsgemeinschaft der Verbände der Freien Wohlfahrtspflege in Duisburg schließt sechs Mitgliedsverbände am Ort zusammen. Zu ihnen gehören die AWO-Duisburg, das Diakonische Werk, der Paritätische, das Deutsche Rote Kreuz, die Jüdische Gemeinde und der Caritasverband Duisburg. In einer Stellungnahme der Arbeitsgemeinschaft an die Mitglieder des Rates der Stadt Duisburg mit dem Titel »Wer ist die Stimme der Migranten?« vom 16. August 2013 wird dem gemeinnützigen Verein „Stimme der Migranten e. V.“ – einer Selbstorganisation von Roma – ein pseudowissenschaftliches Menschenbild unterstellt, das eine enge Verwandtschaft zu den Thesen von Thilo Sarrazin angeblich aufweisen würde. Ursächlich für diese Bewertung seien Aussagen der Stimme der Migranten e.V., nachdem Roma die rechte Gehirnhälfte mehr bedienen, die für Emotion und Kreativität verantwortlich sein soll und nur geringfügig der linken Hälfte, in der das logische Denken steckt.
Dazu sei das Verständnis von Religion sektiererhaft bei dem Roma Verein. Dies will man nicht näher bezeichneten Äußerungen entnommen haben. Mit dem Satz ”Die Arbeitsgemeinschaft der Wohlfahrtverbände stellt fest, dass es „die“ Stimme der Migranten nicht gibt, sondern erfolgreiche Zusammenarbeit immer daraus erwächst, dass viele verschiedene Stimmen versuchen, einstimmig zu agieren”, wird die Selbstorganisation der Roma als nicht existent deklariert. Mit dieser expliziten Form der gesellschaftlichen Ausgrenzung macht die Arbeitsgemeinschaft der Verbände der Freien Wohlfahrtspflege in Duisburg scheinbar keinen Hehl aus ihrer Abneigung gegen die als fremd wahrgenommenen Menschen, die sich als Roma in einer Gruppe selbst organisiert haben. Antiziganismus pur, wie wir finden.
Defizite verhindern Integration
Nun wird auf der Seite der “Stimme der Migranten” kein kollektiv ethnisch-biologistisch determiniertes Menschenbild über die Roma begründet. Vielmehr meint man dort, gesellschaftlich kulturelle Defizite im Verhalten der Roma wiederzuerkennen als Integrationshemmnisse. Die Vereinsvorsitzende Vasilka Bettzieche behauptet, gesellschaftlich kulturelle Vernachlässigung einer Population, hier als Beispiel der Roma, verändere die Gehirntätigkeit. Lernen bzw. Nichtlernen hätten sogar Auswirkungen auf die Neuroanatomie und würde “Spuren hinterlassen”.
- Haben Lernen und gesellschaftliche Förderung Auswirkungen auf die Neuroanatomie bzw. Neurobiologie?
- Kann man das sogar beim Gehirn unter dem Mikroskop erkennen?
- Wird das Gehirn aus der Gruppe der kulturell gesellschaftlich Benachteiligten, die der Nichtlerner, anders genutzt?
Unter neuronaler Plastizität versteht man die Eigenschaft von Synapsen, Nervenzellen oder auch ganzen Hirnarealen, sich in Abhängigkeit von der Verwendung in ihren Eigenschaften zu verändern (anzupassen). Abhängig vom betrachteten System spricht man von synaptischer Plastizität oder kortikaler Plastizität. Der Psychologe Donald Olding Hebb gilt als der Entdecker der synaptischen Plastizität. Er formulierte 1949 die Hebbsche Lernregel:
„Wenn ein Axon der Zelle A […] Zelle B erregt und wiederholt und dauerhaft zur Erzeugung von Aktionspotentialen in Zelle B beiträgt, so resultiert dies in Wachstumsprozessen oder metabolischen Veränderungen in einer oder in beiden Zellen, die bewirken, dass die Effizienz von Zelle A in Bezug auf die Erzeugung eines Aktionspotentials in B größer wird.“/em>
Plastizität ist die Eigenschaft einzelner Synapsen, Nervenzellen und ganzer Gehirnareale sich in Abhängigkeit ihrer Nutzung zu verändern. Dies ist ein natürlicher Prozess, der es dem Organismus ermöglicht, auf Veränderungen in seiner Umgebung zu reagieren und sich diesen anzupassen. Plastizität ist damit die Grundlage aller Lernprozesse. Lernen hinterlässt somit im Gehirn anatomisch sichtbare Spuren:
- Manche dendritische Dornen nehmen mit ihren Synapsen an Größe zu oder werden vollständig neu gebildet. Andere schrumpfen oder verschwinden komplett.
- Die veränderten Verbindungen verknüpfen neue Nervenzellen miteinander. Gelerntes wird also als eine Verschaltung vieler Nervenzellen gespeichert. Eine einzelne Zelle kann so an vielen Gedächtnisinhalten gleichzeitig beteiligt sein.
Die Folgen der Multiplen Deprivation auf die intellektuelle Entwicklung des Kindes
- Der Intellekt bezeichnet die Fähigkeit, etwas geistig zu erfassen, und die Instanz im Menschen, die für das Erkennen und Denken zuständig ist. Als multiple Deprivation bezeichnet man es, wenn jemand (in der Regel ein Kind) in mehrerer Hinsicht benachteiligt ist und dadurch keine guten Entwicklungschancen hat.
- Es wurde untersucht, welchen Einfluss Risikofaktoren auf die intellektuelle Entwicklung des Kindes haben. Bei ein oder zwei Risikofaktoren scheint die Entwicklungsbehinderung nicht besonders gravierend zu sein. Ab vier Risikofaktoren war die kindliche Entwicklung jedoch stark beeinträchtigt.
Quelle: Einfluss von Risikofaktoren auf die Intelligenzentwicklung (Gabarino)
Zahl der Risikofaktoren: Durchschnitts-IQ der Kinder
- keine Risikofaktoren 119
- ein Risikofaktor 116
- zwei Risikofaktoren 113
- vier Risikofaktoren 93
- acht Risikofaktoren 85
Mit anderen Worten: Der Durchschnitts-IQ korreliert signifikant mit Risikofaktoren der Deprivation.
Risikofaktoren für die kindliche Entwicklung sind unter anderem:
- Sowohl absolute Armut als auch relative Armut
- Arbeitslosigkeit der Eltern
- eine eigene Behinderung
- Bildungsarmut der Eltern
- Mutterlosigkeit
- sehr junge Eltern
- Vaterlosigkeit
- Drogenmissbrauch der Eltern
- psychische Krankheit der Eltern
- eine hohe Anzahl an Geschwistern
- Unterversorgung mit Wohnraum
Unbestritten dürfte sein, dass die Fähigkeit zum logischen Denken von der intellektuelle Entwicklung abhängt. Risikofaktoren bei den Roma wie:
- Armut
- Arbeitslosigkeit der Eltern
- Bildungsarmut der Eltern
- eine hohe Anzahl an Geschwistern
- Unterversorgung mit Wohnraum
ziehen erheblichste Beeinträchtigungen nach sich.
Es ist kein Menschenbild mit Verwandtschaft zu den Thesen von Thilo Sarrazin, wenn Vasilka Bettzieche vom Verein “Stimme der Migranten e.V.” die gesellschaftlichen Lebensumstände der Roma mit ihren Folgen der multiplen Deprivation anprangert, die die intellektuelle Entwicklung beeinträchtigt.
Linke und rechte Hirnhälfte
Alles, was psychologisch ist, ist auch biologisch, d. h. alle mentalen Zustände haben neuronale Korrelate, sie spielen sich in den Neuronen-Netzwerken des Gehirns ab. Das Gehirn besteht aus zahlreichen neuronalen Modulen, die auf bestimmte Funktionen spezialisiert sind. Psychische Funktionen sind dabei interindividuell an bestimmten Orten des Gehirns repräsentiert. Für die Bewältigung komplexer Aufgaben arbeiten viele derartige Regionen zusammen (Parallelverarbeitung), umgekehrt können bestimmte Gehirnbereiche verschiedene Aufgaben erfüllen.
Wie oft bei populären Vorstellungen gibt es einen wahren Kern, zu dem viel Mythos hinzukommt. Das Hemisphären-Modell ist eine populärwissenschaftliche Adaptation neurowissenschaftlicher Befunde zur Lateralisation des Gehirns. Es erklärt vereinfacht die Funktionsweise des Gehirns, wird aber mittlerweile als überholt angesehen. Grundidee des Hemisphären Modells ist die Annahme, dass beide Gehirnhälften unterschiedlich (für hauptsächlich rationale bzw. hauptsächlich emotionale Prozesse) spezialisiert sind. So wird davon ausgegangen, dass nur die linke Gehirnhälfte Zugang zum “wachen Bewusstsein” habe und rationale, sprachliche, analytische, zeitlich lineare und logische Prozesse verarbeite, während die rechte Gehirnhälfte “ganzheitlich, bildhaft, musisch, kreativ, intuitiv, zeitlos, räumlich, emotional und körperorientiert“ sei. Demgemäß haben Wissenschaftler der University of Birmingham festgestellt, dass das gesamte Weltbild der Linkshänder anders ist. So verwenden 95 Prozent der Rechtshänder, aber nur 70 Prozent der Linkshänder für die Sprachabläufe die linke Hirnhälfte. Bei Linkshändern ist die rechte, kreative Gehirnhälfte besser ausgeprägt und somit dominanter. Es ist also nicht ungewöhnlich, wenn bei Personen die rechte Gehirnhälfte dominiert.
Dementsprechend schreibt z.B. die Süddeutsche Zeitung, um die Gehirnhälften Dominanz zu testen:
Die „BI Duisburg gegen Rechts“ ging am 30. April 2014 mit der „Initiative gegen Duisburger Zustände“, weiteren antifaschistischen Gruppierungen und ca. 25 Roma aus dem Verein „Stimme der Migranten“ gegen Antiziganismus und Rassismus in Duisburg auf die Straße. Wir können den Artikel der Arbeitsgemeinschaft der Verbände der Freien Wohlfahrtspflege in Duisburg mit seinen Vorwürfen gegen die Roma Vereinigung nicht nachzuvollziehen. Wir bewerten den Artikel „Wer ist die Stimme der Migranten?” der Arbeitsgemeinschaft der Verbände der Freien Wohlfahrtspflege in Duisburg als nicht legitime Verbandsarbeit und als unzulässige Einwirkung auf die Duisburger Politik und deren Ratsvertreter.
Die Wohlfahrtsverbände in Duisburg meinen scheinbar, ihres Monopols beraubt zu werden in Sachen Migration und Integration, was sie angeblich besser betreiben würden. Sie haben aber keine Verankerung in der Roma-Community wie Roma-Selbstorganisationen. Denn Selbstorganisationen sprechen aus, was die Roma beschäftigt. Sie vermitteln im Spannungsverhältnis zwischen den Interessen der eigenen Gruppe, der eigenen kulturellen Dynamik und den Ansprüchen und Erwartungen der Gesellschaft. In Duisburg allerdings spricht man lieber über die Roma, man spricht nicht mit ihnen. Sie werden als Objekte einer Minderheit gesehen in den Vorstellungen einer Mehrheitsgesellschaft. Antiziganistische Ressentiments bestimmen den Blickwinkel – oder soll man sagen: die Scheuklappen auf die Integration.
Dass die Fähigkeit zum strukturierten logischen Denken korreliert mit einem Schulbesuch und diese “Segnung der Zivilisation” oft an den betreffenden Roma vorbeiging, entspringt nicht nur der Weltanschauung der Vorsitzenden des Vereins “Stimme der Migranten” die auf Zivilisation bei der Integration setzt. Im II. Sachstandsbericht zur Umsetzung des Duisburger Handlungskonzeptes bei Zuwanderung von Menschen aus Südosteuropa wird nachgewiesen: “Zu verzeichnen ist auch ein großer Teil von Analphabeten. Es ist davon auszugehen, dass vor einer angestrebten Integration in den Arbeitsmarkt in den überwiegenden Fällen zunächst die Sprachkompetenz verbessert werden muss. Daraus resultierend wurde bei den Netzwerkpartnern, insbesondere dem Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BAMF) sowie dem Duisburger Trägernetzwerk „Deutsch lernen in Duisburg“ bereits eine (ggfs. kurzfristige) Aufstockungsmöglichkeit der Alphabetisierungs- / Sprach- und Integrationskurse angeregt. […….] Laut einer Auswertung der für Duisburg vorliegenden Zahlen zur beruflichen Qualifikation von SGB II-Beziehern verfügen ca. neun von zehn Personen über keinen beruflichen Abschluss.”
Wenn also ein Roma-Verein die kulturell-gesellschaftliche Vernachlässigung seiner Ethnie anprangert, dann muss er sich nicht beschimpfen und verleumden lassen. Die Wohlfahrtsverbände in Duisburg haben die Roma mit ihrem Verein verbal hingerichtet, sie als Rassisten dargestellt und damit ausgeschaltet durch gesellschaftliche Ächtung und Isolation. Vasilka Bettzieche von der Stimme der Migranten e.V. ist keine Wissenschaftlerin. Aber sie liegt richtig, dass die gesellschaftlich kulturelle Vernachlässigung einer Population direkte messbare Auswirkungen hat auf die intellektuelle Entwicklung. Ja sie hat sogar Auswirkungen auf die Neurobiologie und Neuroanatomie.
AWO-Geschäftsführer Wolfgang Krause erklärte auf unsere Anfrage, der Artikel “Wer ist die Stimme der Migranten?” sei wohl eine Gemeinschaftsarbeit. Er wolle den Artikel nicht diskutieren. Daher stellen wir Öffentlichkeit her über diesen, wie wir finden, ausgesprochenen Skandal in Duisburg. Nach unserer Auffassung haben die Damen und Herren Verbandsvertreter ihren gesellschaftlichen Einfluss auf Duisburger Ratsvertreter missbraucht. Sie haben ihre Feindseligkeit den Roma gegenüber, die sich selbst organisiert haben, deutlich in aller Arroganz der Macht eines Verbandes unter Beweis gestellt.
Wie wurde noch von ihnen behauptet: “Die Arbeitsgemeinschaft der Wohlfahrtverbände stellt fest, dass es „die“ Stimme der Migranten nicht gibt.” Das sehen die Roma aber völlig anders. Und nur darauf kommt es an. Kein Ruhmesblatt für die Damen und Herren Verbandsvertreter.
– Pressemeldung der BI Duisburg gegen Rechts –
Foto: Jürgen Rohn