Gutachter Gerlach: Multikausale Zusammenhänge als Ursache der Katastrophe
Von Petra Grünendahl

Der Vorsitzende Richter Mario Plein (mitte) vor der Verkündung der Einstellung des Verfahrens: Zehn Jahre nach der Loveparade-Katastrophe mit 21 Toten stellt das Landgericht Duisburg das Verfahren ohne Urteil ein. Foto: Lars Heidrich / FUNKE Foto Services.

Letzter Prozesstag in der Aussenstelle des Landgericht Duisburg auf dem Gelände der Messe in Düsseldorf: Die Stühle im Zuschauerbereich des Gerichtssaales stehen wegen der orona-Pandemie nur mit Abstand. Foto: Lars Heidrich / FUNKE Foto Services.
Zehn maßgebliche Ursachen
Weitere Ursachen sind am Veranstaltungstag selber zu finden: Massive Störungen in der Kommunikation, die notwendige Absprachen teilweise unmöglich machten, damit verbunden die unkoordinierte Steuerung von Personenströmen und die fehlende Abstimmung von Maßnahmen wegen der Rückstaus vor den Zugangsbereichen sowie zwischen dem Zugang auf das Gelände und der Fläche mit den Musikwagen. Des Weiteren fielen organisatorische Entscheidungen am Veranstaltungstag entgegen vorheriger Absprachen, wurden Zugangsanlagen ohne Abstimmung geöffnet, obwohl ihre Schließung angeordnet war. „Die Polizeiketten dürften mit beigetragen haben“, sagte Plein: Die dritte Polizeikette auf der Rampe habe die Drucksituation auf der Rampe verstärkt. Allerdings sei man beim Einziehen aller drei Polizeiketten davon ausgegangen, dass die Vereinzelungsanlagen an den Zugängen West und Ost vollständig geschlossen wären. Was aber, erklärte Richter Plein, nicht der Fall gewesen sei. Und als schließlich um 16.26 bzw. 16.31 Uhr ein Polizist an der Vereinzelungsanlage West die Ordner anwies* [siehe Anmerkung unten], Zäune zu öffnen – für Richter Plein der „Point of no Return“ –, hatte dies einen ungehinderten Ansturm von Besuchermassen auf den Tunnel (und dann die Rampe) zur Folge. Und auf der Rampe trafen sie dann auf die, die die Veranstaltung verlassen wollten.
Mit dem Auflösen der dritten Polizeikette auf der Rampe verdichteten sich Massen am unteren Ende zu den Magnetpunkten Treppe (unterhalb des Stellwerkhäuschens), Lichtmast und Container des Crowd-Managers, weil Menschen sich dort ein entweichen aus der wogenden Massen erhofften. Im dichtesten Gedränge seien dann Menschen in Schräglage gekommen und gestürzt, schilderte es Mario Plein, und dann erdrückt oder zertrampelt worden. Dort habe man hinterher die Toten gefunden. Das letzte Todesopfer sei vier Tage später (am 28. Juli 2010) im Krankenhaus verstorben. Die nahende Verjährung am 27. Juli sei aber nicht der Grund für die Einstellung des Prozesses gewesen. Eine weitere Aufklärung habe auch Gutachter Gerlach nicht für möglich gehalten. Die Vernehmung weiterer Zeugen hätte das Verfahren jedoch erheblich weiter in die Länge gezogen. Und ob damit einem Einzelnen der Angeklagten noch eine individuelle strafrechtlich relevante Schuld nachzuweisen gewesen wäre, ist fraglich.
Lehren aus der Katastrophe

Aus der Unterführung auf der Karl-Lehr-Straße. geht es über die Rampe zum Güterbahnhofsgelände Foto: Petra Grünendahl.
„Dem öffentlichen Interesse ist auch mit der hier geleisteten Aufklärung Genüge getan“, erklärte der Vorsitzende Richter, „da sich Erkenntnisse auf zukünftige Planungen auswirken. An Veranstaltungsplanungen Beteiligte sind heute sensibilisierter für Sicherheitsprobleme!“ Nach Aufarbeitung der Ereignisse sehe man heute vieles anders und hätten sich auch rechtliche Rahmenbedingungen für ein solches Genehmigungsverfahren entsprechend geändert. Auch Gutachter Gerlach sei der Meinung: Mit einer weiteren Aufklärung wäre nicht zu rechen. So mahnte Mario Plein: „Strafverfolgung kein Selbstzweck, sondern muss auf den Schuldspruch ausgerichtet sein.“ Den könne er aber nicht absehen. Zugunsten der Angeklagten spreche, so Plein, dass sie strafrechtlich nicht vorbelastet seien. Schuld mindernd sei zudem zu werten, dass 2010 gesetzliche organisatorische Regelungen lückenhaft und Rechtsgrundlagen heterogen gewesen seien. Nach der Loveparade 2010 habe sich hier viel getan. „Die Angeklagten haben sich an das damals Übliche gehalten“, so der Vorsitzende Richter, der schloss: „Dies ist keine Verlegenheitsentscheidung: Wir halten sie rechtlich für richtig!“
Für die Angehörigen der Toten, die Verletzten und Traumatisierten wäre es mit Sicherheit einfacher gewesen, wenn man einen schuldig Gesprochenen bestraft hätte. Für die Bewältigung ihres Traumas haben sie jetzt „lediglich“ eine Erklärung der Ursachen, wie es zur Katastrophe kommen konnte. Das ist mit Sicherheit nicht der Abschluss, den sich viele von ihnen gewünscht hätten. Aber der einzige, der in unserem Rechtsstaat möglich war!
*) Der Polizist ist auf einem Überwachungsvideo an der Kreuzung Düsseldorfer / Karl-Lehr-Straße auszumachen, aber nicht zu erkennen. Er ist bis heute unbekannt. Siehe auch hier …
Das Statement der Staatsanwaltschaft Duisburg zur Einstellung des Prozesses
© 2020 Petra Grünendahl (Text)
Fotos: Petra Grünendahl (3), Lars Heidrich / Funke Foto Services (2)